Zwischen öffentlich und privat

Wie Jugendliche ihre Privatheit navigieren

 

Die nachfolgenden Ergebnisse stammen aus vier Forschungswerkstätten, die im Herbst 2023 mit insgesamt 40 Jugendlichen zwischen 13 und 19 Jahren durchgeführt wurden:

  • Gruppe 1 (SMV): Jugendliche aus München, die sich in der Schülermitverantwortung engagieren
  • Gruppe 2 (FJ): Feuerwehrjugend in einem oberbayerischen Dorf
  • Gruppe 3 (FA): Film-AG in Schwaben
  • Gruppe 4 (GK): 11. Klasse eines ländlichen Gymnasiums in Mittelfranken

Ergänzend sind in diesen Text Aussagen von Jugendlichen aus vier 10. Klassen eines Münchner Gymnasiums eingeflossen, die im Rahmen eines Filmprojektes (FP) ebenfalls mit uns über ihre Werte, Themen, Meinungsbildung und Teilhabemöglichkeiten gesprochen haben.

Sichtbar in der digitalen Welt

Der digitale Wandel bedingt ein Aufwachsen und Erwachsenwerden, das als „onlife“ bezeichnet werden kann. Die Entwicklungsaufgabe, eine eigene Identität auszubilden, unterliegt heute der besonderen Herausforderung, dies unter den Bedingungen digitaler Medien zu meistern. Denn Erwachsenwerden ist heute auch mit dem sozialen Erwartungsdruck verbunden, Teilhabe und Identitätsfindung in sozialen Medien zu leisten und dort auf konkrete und abstrakte Weise sichtbar zu werden:

  • Konkret sichtbar sind Jugendliche mit Profilen auf beispielweise Instagram oder TikTok, die für mehr oder weniger viele Menschen zugänglich und sichtbar sind.
  • Abstrakt sichtbar sind sie, weil vieles abläuft, ohne dass Nutzer*innen darüber Bescheid wissen: Wo, von wem und wie sind eigene Daten, Bilder, Texte usw. gespeichert? Wo, von wem und wie sind eigene Daten, Bilder, Texte usw. gespeichert? Wer hat Zugriff, wer verbirgt sich hinter anderen Profilen und Texten? Es gibt viel Unbekanntes und Unheimliches in der digitalen Welt.

Unsichtbar sein dürfen

Für die Jugendlichen ist dieses öffentliche Leben mit Herausforderungen und Anstrengung verbunden. Entsprechend haben sie ein Bedürfnis nach Rückzug und Privatheit:

„Es ist wichtig, sich zurückziehen zu können und sich von dem zu entfernen, was einen verletzen könnte und einfach mal mit sich selbst zu einem Punkt zu kommen (…). Rückzug ist etwas, wofür man kämpfen muss, weil die Gesellschaft will immer alles erklärt haben (…), deswegen muss man Grenzen setzen können“ – Zenia, 16, SMV.

Grenzen digital setzen zu können, wird zu einem wichtigen Aspekt von Medienkompetenz. Gerade, wenn die digitale Welt als schnelllebig und mit hohem Erwartungsdruck erlebt wird. Grenzen zu setzen, heißt auch, zu entscheiden, welche persönlichen Daten und Informationen privat sind und welche veröffentlicht werden können. Hierbei gibt es viele „Zwischenräume“ und Gleichzeitigkeiten. So finden sich auch online Rückzugsräume, die zugleich als gefährlich erlebt werden können:

„Wenn man über das Internet redet zum Beispiel, wenn man ein Zuhause hat, wo man sich nicht wohlfühlt und sich nicht zurückziehen kann, dann ist bei ganz, ganz vielen Menschen das Internet der Rückzugsort. Das meistens auch schon, seit sie sehr, sehr klein sind. Ich finde das einerseits schön, denn es gibt Möglichkeiten und es gibt einen Ort, an dem man sich selbst sein kann. Andererseits ist es einfach ein sehr, sehr großer und gefährlicher Ort, an dem man möglicherweise Themen oder Medien ausgesetzt wird, für die man zu jung ist. Was Informationen angeht, bringt es viele Gefahren mit sich“ – Mara, 19, SMV.

Es verwundert nicht, dass sich viele Jugendliche einen Rückzugsort fernab der medialen Welt wünschen. Sie wünschen sich ein „Funkloch“ (Zenia, 16, SMV), in dem sie unerreichbar und sein und entspannen können. Andere Jugendliche würden gerne das Handy öfter weglegen und mehr Zeit mit Freund*innen verbringen.

Einfach das Internet löschen oder in die Berge gehen, wo es kein Internet gibt – Jona, 17, SMV.

Außerdem möchte er das Handy öfter weglegen und mehr Zeit mit den Freunden verbringen – Alva, 15 über Marco, 16, GK.

Der soziale Druck, in den sozialen Medien präsent zu sein, ist bei den Jugendlichen, die sich auch mit der Suche nach engen und verlässlichen Gemeinschaften schwertun, umso größer. Zwischen Filtern, Bildbearbeitung und einer guten Bildauswahl bleibt mitunter auch etwas von der echten Person verborgen. Obwohl die Jugendlichen den Wunsch nach Rückzug von digitalen Medien spüren, sind sie zugleich auf diese angewiesen – als Rückzugs- und zugleich Teilhabeort. Eine Ambivalenz, die umso schwerer überwindbar ist, je weniger (sichere) soziale Gemeinschaften sowie Räume, in denen sie authentisch sein können und gesehen werden, im Leben der Jugendlichen vorhanden sind. Es zeigt sich ein Wunsch nach sicheren Räumen, in denen sie sich ohne Gefahr authentisch geben können.

Sichtbarkeit voraussehen – stumm bleiben

Deutlich wird das Spannungsfeld zwischen privat und öffentlich noch einmal, wenn es um Meinungsbildung und politische Beteiligung oder Teilhabe geht. Zum Teil scheuen sich die Jugendlichen davor, die eigene Meinung zu sagen, da sie negative Reaktionen erwarten:

„Ich denke, man muss aufpassen, was man preisgibt. Es ist wirklich sehr wichtig, darauf zu achten, was man sagt und wie man es sagt. Denn dadurch, dass man eben etwas sagen möchte, sollte man beachten, dass die Meinung einem umgedreht und gegen einen verwendet werden kann. Deswegen ist es wirklich ganz, ganz wichtig, was man sagt und wie man es sagt“ – Zenia, 16, SMV.

So entsteht eine Art antizipierte Schweigespirale: Viele befragte Jugendlichen versuchen vorherzusehen, was bei welcher Gruppe möglich ist zu sagen, ansonsten halten sie ihre Meinung zurück. Wenn sie etwas teilen, dann nur innerhalb einer sicheren Gruppe: „Sehe ich Videos im Internet, sende ich die nur Freunden, die eine ähnliche Meinung haben“ (Jannes, 17, GK). Meinungsverschiedenheiten oder gar Konflikte werden vermieden, für die Jugendlichen hängt es davon ab, mit wem sie reden, denn „manchmal will man keinen Konflikt anfangen, da man weiß, dass die andere Person eine andere Meinung hat“ (Laura, 13, FA). Anstatt sich in Beteiligung auszuprobieren und sich auszutauschen, auch mal zu diskutieren, arrangieren sie sich in separierten Gruppen, dabei ist der Anspruch leitend, keine negativen Reaktionen zu bekommen und sich gut zu überlegen, wie sie sich zeigen:

„In den Medien ist es sehr stark, dass sich Gruppen bilden und in diesen Gruppen immer gehetzt wird auf andere, aber gar nicht miteinander gesprochen wird. Wenn, dann werden sich gegenseitig Parolen an den Kopf geworfen“ – Jona, 17, SMV.

Viele der befragten Jugendlichen berichten, dass in diesen Gruppen oft gar nicht über Politik gesprochen wird, was für Jona aber wichtig wäre: „Ich finde, es ist sehr wichtig in der Gesellschaft, die teilweise in vielen Themen gespalten ist, miteinander zu reden und auch seine Probleme zu kommunizieren“ (Jona, 17, SMV).

 

Sichtbarkeit vermeiden

Insgesamt zeigt sich, dass Jugendliche einen sozialen Erwartungsdruck spüren, durch soziale Medien Teilhabe zu leben und sichtbar zu werden. Sie setzen sich damit Risiken aus und haben ein starkes Bedürfnis nach Rückhalt, Zugehörigkeit, Rückzugsmöglichkeiten und Privatheit. Dabei werden viele Räume gleichzeitig als sicher und gefährlich wahrgenommen. Sie haben aber den Wunsch nach sicheren Räumen, in denen sie authentisch agieren können. Der öffentliche Charakter sozialer Medien beeinflusst die politische Beteiligung und Meinungsbildung aus Angst vor negativen Reaktionen und Manipulationen, sorgt für das Herausbilden von „Bubbles“ oder Schweigen zu politischen Themen. So nehmen viele Jugendliche aus Angst vor negativen Reaktionen nicht am öffentlichen Diskurs teil.

Studie zum Umgang von Jugendlichen mit algorithmischen Empfehlungssystemen: https://digid.jff.de/qualitative-studie-zum-umgang-von-jugendlichen-mit-aes-erschienen/

Expertise zur demokratischen Aushandlung von Konflikten in und mit Medien: https://rise-jugendkultur.de/expertise/was-waere-wenn/teil-1/konflikte-begleiten-und-gestalten/

Studie zu Kompetenzen im Zeitalter von KI: https://digid.jff.de/kompass-ki-und-kompetenz-2023-online/

 

  Zitationsvorschlag

Oberlinner, A.; Pfaff-Rüdiger, S., Eggert, S. & Winter, C. (2024). Das bewegt uns – Zwischen öffentlich und privat. Wie Jugendliche ihre Privatheit navigieren. Herausgegeben vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Abrufbar unter: https://das-bewegt-uns.de/zwischen-oeffentlich-und-privat/
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