Zwischen diffusem Ich und diffusem Wir

Wie Jugendliche ihre Identität erleben

 

Die nachfolgenden Ergebnisse stammen aus vier Forschungswerkstätten, die im Herbst 2023 mit insgesamt 40 Jugendlichen zwischen 13 und 19 Jahren durchgeführt wurden:

  • Gruppe 1 (SMV): Jugendliche aus München, die sich in der Schülermitverantwortung engagieren
  • Gruppe 2 (FJ): Feuerwehrjugend in einem oberbayerischen Dorf
  • Gruppe 3 (FA): Film-AG in Schwaben
  • Gruppe 4 (GK): 11. Klasse eines ländlichen Gymnasiums in Mittelfranken

Ergänzend sind in diesen Text Aussagen von Jugendlichen aus vier 10. Klassen eines Münchner Gymnasiums eingeflossen, die im Rahmen eines Filmprojektes (FP) ebenfalls mit uns über ihre Werte, Themen, Meinungsbildung und Teilhabemöglichkeiten gesprochen haben.

 

 

Durch den Dschungel an Möglichkeiten zur eigenen Identität

„In the social jungle of human existence there is no feeling of being alive without a sense of identity“[1]

In der Lebensphase Jugend beschäftigen sich Jugendliche mit der Frage „Wer bin ich?“ und suchen nach Antworten, nach Rollen und Modellen für das zukünftige Ich. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft bieten sich den Jugendlichen insbesondere in den Medien und sozialen Netzwerken viele Orientierungsmöglichkeiten. Die große Auswahl macht es aber gleichzeitig auch schwerer, sich zu entscheiden und es kann zu einer Identitätsdiffusion kommen. Statt einer stabilen und sicheren Identität bleibt das Ich vage und diffus. Um diese Diffusion aufzulösen, orientieren sich Jugendliche gern an Vorbildern bis hin zu einer „völligen Überidentifikation mit Helden, Cliquen etc.“[2]. Der Weg aus der Identitätsdiffusion zeigt sich, wenn Jugendliche „sich mit verschiedenen Identitätsformen auseinandersetz[en], um sich dann aktiv und autonom für eine Identitätsform zu entscheiden“[3]. Dafür brauchen sie Räume, um ihr Ich zu erproben bzw. Identitätskonzepte, an denen sie sich (auch) reiben können.

In den Forschungswerkstätten fiel auf, dass – mit Ausnahme der SMV-Gruppe – die Jugendlichen bislang gar keine oder kaum Gelegenheiten hatten, über sich selbst und die eigenen Werte und Bedürfnisse nachzudenken. Die eigenen Werte – so Marcel (16, GK) – seien nichts, worüber man „am Abend“ nachdenke, „ob [man] Wert X oder Y“ vertreten habe. Einigen Jugendlichen fiel es darüber hinaus zunächst schwer, über Persönliches vor der Gruppe zu sprechen. Es habe aber geholfen, in der Forschungswerkstatt „über die [eigenen] Werte in Bezug zu Aktivitäten seines Lebens nachzudenken“ (Marcel, 16, GK).

Dabei meint Identitätsfindung (oder Identitätsentwicklung) nicht nur, sich für etwas zu entscheiden, sondern auch zu überprüfen, wie diese Entscheidungen von anderen gesehen und bewertet werden und sie vor diesem Hintergrund zu verfestigen, zu verändern oder zu verwerfen. Je mehr sich Jugendliche ihrer eigenen Motive, Gefühle und der äußeren Anforderungen bewusst sind, umso eher können sie aus freien Stücken handeln, unterschiedliche Identitäten ausprobieren und so ihr Selbst anpassen.

Sich durch Andere finden: Zugehörigkeit als Identität

Wer in ihrer*seiner Identität noch nicht gefestigt ist, kann in der Zugehörigkeit zu bestimmten (Peer) Gruppen oder Gemeinschaften Rückhalt finden. Das große Bedürfnis nach Gemeinschaft lässt sich auch in der Wertorientierung der Jugendlichen wiederfinden: Sie wünschen sich, sozial gehalten zu sein, sei es von der Familie oder in einer Gemeinschaft wie dem Sportverein. „Ohne Zusammenhalt [würde] im Leben nichts funktionieren“, stellt der 17-jährige André (GK) fest. Auf dem Dorf entsteht das Wir-Gefühl durch die gegenseitige Hilfsbereitschaft und die Tatsache, dass die Jugendlichen gemeinsam in mehreren Vereinen (neben der Feuerwehr z. B. auch der Schützenverein) und der Kirche als Ministrant*innen engagiert sind.

„Wir helfen überall, weil man sich dann auch einen Kuchen schenkt“ – Markus, 14, FJ

Der 19-jährige Bruno (SMV) erlebt in der Stadt eine andere Haltung, man denke sich: „Hey wieso soll ich helfen? Das kann doch jemand anderes!“ Er führt dies auf „die Distanz, die vom digitalen Zeitalter kommt“ zurück, man kenne andere Menschen trotz räumlicher Nähe nicht. Durch medial vermittelte Kommunikation kommt es zu weniger echter Begegnung. Jugendliche haben aber ein starkes Bedürfnis danach, sich mit anderen auszutauschen, ihre Identität und zugleich ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Wer sich längerfristig engagiert – sei es in der Feuerwehr oder in der SMV – hat ein deutlich stärkeres Wir-Gefühl. Bela (18) beschreibt die SMV-Gruppe als eigene Blase:

„Wir sind ja schon ein bisschen in der Bambuszahnbürsten-Bubble“.

Den Jugendlichen der SMV-Gruppe ist dabei wichtig, dass sie aus ihrer Blase auch hinausgehen, mit anderen in Kontakt kommen, über „Probleme kommunizieren“ und „[sich] nicht immer nur in der Gruppe […] aufzuregen über ein Problem“ (Jona, 17, SMV). Wer allerdings nicht wie die Feuerwehrjugend oder die SMV einer festen Gruppe mit ähnlichen Werten und Zielen angehört, tut sich deutlich schwerer, sich zur Gesellschaft zugehörig zu fühlen. Bleibt das Wir ebenso wie das Ich diffus, erschwert dies das Aufwachsen und den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden zusätzlich.

Hier gehöre ich dazu – hier mache ich mit

Insgesamt wird deutlich, dass besonders die Jugendlichen in den Städten nach ihrer Identität und Zugehörigkeit suchen. Dagegen sind die Jugendlichen auf dem Land, fest eingebunden in ihre Gemeinschaft, weniger diffus und in ihrem Denken sehr auf die eigene Gruppe bezogen, noch ohne sich aber allzu sehr an gesellschaftlichen Themen zu orientieren. Im Dorf entsteht ein Wir-Gefühl durch gegenseitige Hilfsbereitschaft und das Engagement in Vereinen oder der Kirche.

Auf der Suche nach der Identität nehmen die Jugendlichen viele Angebote wahr, insbesondere in digitalen und sozialen Medien, dort finden sie sich nach gemeinsamen Interessen oder Themen zu Gruppen oder „Bubbles“ zusammen. Dies ist aus Sicht der Jugendlichen auch deshalb notwendig, um sich gemeinsam für etwas einsetzen zu können und aus der Gruppe Rückhalt zu bekommen:

„Kämpft man gegen eine andere Gruppe im Internet an, funktioniert nichts, wenn man alleine versucht, gegen viele Menschen anzusprechen.“ – Jannes, 17, GK

Helene (FA, 13) hat ihre Bubble online beispielsweise in einer Glaubensgruppe gefunden. Der Wunsch und das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist groß, für ein stabiles Ich braucht es auch ein stabiles Wir und echte Gemeinschaften, in denen Jugendliche lernen Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und über Verbindlichkeit Rückhalt und Vertrauen zu erleben.

  Literatur

 

[1] Erikson, E. (1968), Identity: Youth and Crisis. New York: W.W. Norton, S. 130

[2] Seiffge-Krenke, I. (2021). Die Jugendlichen und ihre Suche nach dem neuen Ich: Identitätsentwicklung in der Adoleszenz (2., aktualisierte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer, S. 31

[3] Ebd., S. 3

  Links

  Zitationsvorschlag

Oberlinner, A., Pfaff-Rüdiger, S., Eggert, S. &  Winter, C. (2024). Das bewegt uns – Zwischen diffusem Ich und diffusem Wir. Wie Jugendliche ihre Identität erleben. Herausgegeben vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Abrufbar unter: https://das-bewegt-uns.de/zwischen-diffusem-ich-und-diffusem-wird.de
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